Mitentscheiden – ein Fest für alle

„Wir haben ein Gesetzesmonopol des Nationalrats;
keine Volksgesetzgebung, auch nicht punktuell.“ (
Dr. Susanne Fürst, 2014)

Wenn die „bestehenden Institutionen unserer Demokratie[n] gestärkt werden“ sollen, diese aus sich heraus bisher aber nicht in der Lage waren, die gegebenen Repräsentationslücken zu vermeiden, dann sollten wir vielleicht doch endlich einmal „mehr Demokratie wagen“.

Wie dies Jahrzehnte nach der Regierungserklärung von Willy Brandt im Oktober 1969 trotz fehlender Bestürztheit um die fortgesetzte Herabstufung Österreichs zur Wahldemokratie geschehen soll, das gilt es in der Folge herauszufinden. Mit Aufklärung allein kommen wir nicht weiter. Das weiß auch Armin Nassehi und schlägt daher Verhaltensänderung in ästhetisch-konsumähnlicher Form vor. (Unbehagen, S 331)

2023-12-15_Hambacher-Fest

Wie damals im Jahr 1832, so gibt es auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts gute Gründe, sich bei einem (Schüler-)Fest zu versammeln und Forderungen an die Regierenden zu erheben. Die erste Frage auf dem Weg dorthin lautet: worauf sollten wir achten, damit es ein in vielerlei Hinsicht gelingendes Fest wird?

Dazu Roland Roth in „Demokratie wirksam fördern„:

2023-12-10_Foerderfonds-Demokratie_Projekte_gefoerderte-Projekte„Stets ist dabei zu berücksichtigen, dass nicht jedes Engagement und nicht jede Partizipation demokratisch ist, zu einer demokratischen politischen Kultur beiträgt oder die Qualität demokratischen Regierens verbessert. Partizipation kann z.B. soziale und politische Ungleichheiten vertiefen, wenn sie lediglich ohnehin privilegierte Gruppen erreicht (Lee et al. 2015; Roth 2016a). Populäre Formen der Partizipation (wie z.B. Bürgerhaushalte) sind auch in autoritären Regimen im Einsatz – etwa in China (Gueorguiev 2021) und einigen Staaten in Südostasien (Rodan 2018) – und bringen dort keine demokratisierenden Impulse hervor.“ (S 151)

Anschließend nennt Roland Roth „aus der Debatte über lokale Beteiligungskulturen […] einige Dimensionen einer demokratisch orientierten Engagementförderung„, die „vor allem dann nachhaltig sein [dürfte], wenn sie …

  • Kontroversen und Konflikte nicht scheut …
  • perspektivisch durch institutionelle Verankerung unterstützt wird … [Anm.: vgl. Hans Kelsen et al.]
  • niederschwellig ansetzt …
  • inklusiv ausgerichtet ist …
  • auf Offenheit in Politik und Verwaltung trifft …
  • Erfolge und Selbstwirksamkeit ermöglicht.“ (S 151 ff)

2023-11-02_UNRISD_Machtstrukturen-aendern-mittels-Allianzen-und-Druck-von-unten

Wie könnte nun so ein demokratiepolitisches Engagement aussehen?

„Ohne Weiterentwicklung stirbt die Demokratie: Wahlen allein sind zu wenig, …“ (Hans Rauscher, 2023)

2023-12-07_politikkultur_Museum-der-Zukunft_Brieger-Kollar-Hamann_Museumsarbeit-Bildungsarbeit_Ausschnitt
Aus: Politik & Kultur 11/2022, Museumsarbeit = Bildungsarbeit?, S 20 – https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2022/10/puk11-22.pdf

Bei den folgenden Überlegungen für ein Fest zur Stärkung der Demokratie geht es auch um Transformation von Widerstand abseits einer aufrüttelnden Krise (siehe Belgien, Paris, Irland) als treibender Motor für weitere Schritte auf dem Weg zu „mehr Demokratie„. Cornelia Koppetsch:

„Damit eine solche Mobilisierung aber überhaupt gelingen kann, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens müssen im Feld der ideologischen bzw. kulturellen Produktion oppositionelle Ideologien und Weltsichten (Häresien) etabliert werden, welche die herrschende Moral, die geltenden Spielregeln und Sichtweisen durch kollektive Aktionen öffentlich in Frage stellen. Zweitens müssen die jeweiligen oppositionellen Ideologien und Weltsichten eine allgemeine symbolische Klammer darstellen, die an die lebensweltlichen Sichtweisen und Alltagskulturen verschiedener Milieus anknüpfen können. Politische Gefolgschaft ist keine im vollen Umfang ‚bewusste Entscheidung‘, sondern knüpft an vorpolitische Einstellungen und Weltbilder an, die durch den Habitus, die ’strukturierte und strukturierende Struktur‘ (Bourdieu 1982, S. 277) sozial erworbener Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsregeln, im Subjekt befestigt werden. Ideologien müssen somit einen Widerhall im Habitus unterschiedlicher zu mobilisierender Gruppen aufweisen. Drittens müssen die unterschiedlichen beteiligten Gruppen durch ein Verhältnis der strukturellen Homologie im Sozialraum aufeinander bezogen sein.“ (Rechtspopulismus als Klassenkampf?, S 386)


Eva M. Welskop-Deffaa (2017, S 477):

„Es braucht eine Ermutigung aller Wählerinnen und Wähler, gerade auch derer in prekären Lebenslagen, mit ihrer Stimme ihre politischen Prioritäten zum Ausdruck zu bringen und ‚ihren‘ Kandidat/innen den Einzug in die Parlamente zu ermöglichen, so dass diese Responsivität und Repräsentativität verlässlich gewährleisten.“


Abseits von entwicklungsfördernden Krisen braucht es dazu eine entsprechende Kultur zur Erzielung nachhaltiger Transformationserfolge auf dem Weg zu der von Hartmut Rosa vorgeschlagenen „Gemeinwohlkonzeption, weil Politik nicht einfach Interessendurchsetzung ist.“ Wenn durch diese das Volk souverän wirken können soll, hat sie nach Hans Kelsen eine Institution der Republik zu sein. Dazu brauchte es Tamara Ehs zufolge nicht einmal eine Gesetzesänderung: es reicht, „die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer [zu] interpretieren.“ (Krisendemokratie, S 101 f)

2023-12-28_armin-nassehi_unbehagen_verhaltensaenderung_aesthetische-form-des-konsums
„Vielleicht kann man es auf die ätzende Formel bringen, dass Konsum womöglich leistungsfähiger ist als Bildung.“ (S 336)


2024-03-31_Frank-Adloff_Zivilgesellschaft_S-129

„Wir müssen diese immense Macht der Kultur für die demokratische Gesundheit unserer Gesellschaften nutzen.“ (Margaritis Schinas, 2023)

Mitentscheiden – ein Fest für alle

2023-10-27_mitentscheiden_ein-fest-fuer-alle_skizze-01Nun zur ersten Skizze einer Idee für eine – allenfalls auch monetären Mehrwert generierende – Veranstaltungsreihe mit aktivierenden, diskursiven und unterhaltsamen Elementen als ein wegbereitendes Kulturevent für permanente Demokratieentwicklung. „Zusammen leben“* steht dabei für das Gesamtprogramm, bestehend aus:

  • Zusammen fordern … zB im Rahmen von Demos wie „Wir wollen und werden mitentscheiden!“ – als Klammer für soziokulturell unterschiedliche Interessensgruppen, inklusive der Deklassierten
  • Zusammen planen … via Mitbestimmungs-Workshops und Diskursveranstaltungen nach dem Motto: „Was braucht’s für MEHR DEMOKRATIE?“
  • Zusammen feiern … und schließlich wird – beispielsweise wie am Ende der Performance „One Three Some“ von Danae Theodoridou – getanzt … oder sonst wie kulturell aufbauend „Gemeinschaft gefeiert“.

*| vgl. bundesweites Bündnis „Zusammen für Demokratie„.

2024-03-09_Kursbuch-Buergerbeteiligung_Titelseite„Ein unabdingbarer Teil von Partizipation
ist deshalb die Unterstützung
und Förderung der Teilnahme
wenig partizipationsaffiner Bevölkerungsgruppen.“
(Brandenberg/Kaschlik/Nägeli, 2023)

Die große noch verbleibende Frage: wie organisieren wir uns dazu landesweit, um dauerhaft wirksam zu werden?

Eine schnelle Antwort finden wir in einer Mischung aus „Cannabis Social Clubs“ und „Planungszellen“ aus den 1970er-Jahren. Die Bezeichnung „Bürgercafé“ ist dabei zu einschränkend, da sich alle, die im Land leben und Steuern zahlen zur Mitwirkung eingeladen fühlen sollen. Diesbezüglich ist jede Kulturinitiative angesprochen; ebenso jene, die sich bereits bisher um demokratiepolitische Agenden wie zB die Gleichstellung bemühten. Sinnvoll wird auch sein, sich in Kooperation mit Städte- und Gemeindebund zu organisieren. Auf eine Unterstützung durch das nationale Parlament zu hoffen wird vermutlich vergebens bleiben.

2024-03-08_Tamara-Ehs_Buergercafes_Planungszellen

2024-03-12_14te-Armutskonferenz_Jetzt-uebernehmen-wir

Wege
zum
repräsentativen
Parlament

Skizze 01 als pdf


„Es braucht eine kritische Masse von Menschen, die sich in ihrem Handeln an veränderten Leitbildern orientieren und damit die Leitbilder und dann auch das politische Handeln verändern.“
Johannes Wallacher, These 8
(vgl. Erica Chenoweth)

2024-01-08_Stadttheater-Darmstadt_Prozession_Demokratie-Frieden

2023-11-17_Wuppertal-Institut_transform-NRW_Aufbau-einer-transdisziplinaeren-Transfer-und-Kooperationsplattform

Die Rechtfertigung für chronautische Eingriffe sei einleuchtend: Niemand dürfe erniedrigt werden, egal, wann der Mensch gelebt habe. Wer die Möglichkeit habe, etwas daran zu ändern, sollte es tun. …, wir sind verpflichtet es zu tun, es wenigstens zu versuchen, nichts ist anstößiger als die Gleichgültigkeit gegenüber einem Unrecht, das sich aus der Welt schaffen ließe. (Ilija Trojanow, Tausend und ein Morgen, 2023, S 48)

Anmerkungen

Ad UNRISD-Forschungen: Eine fortschrittliche Führung, die „vom Gemeinwohl und dem öffentlichen Interesse inspiriert ist“, muss erst hergestellt werden. Der Befund dazu ist eindeutig (siehe Repräsentationslücken) und gipfelt in diesem Satz von Michael J. Sandel: „Die Reichen und Mächtigen haben das System manipuliert, um ihre Privilegien zu behalten; die Akademiker haben herausgefunden, wie sie ihre Vorteile an ihre Kinder weitergeben können, wodurch die Meritokratie zu einer Erbaristokratie geworden ist.“ (Vom Ende des Gemeinwohls, 2020, S 191)

2023-11-09_Herfried-Muenkler_Zukunft-der-Demokratie_David-Van-Reybrouck
Weitere Aspekte siehe https://x.com/ArnoNiesner/status/1723650963162960355

Ad Diskurs: Beispielsweise über die Notwendigkeit einer parlamentarischen Gemeinwohlkontrolle. Nachfolgend diese lose Gedankensammlung dazu:

Sofern die im Bild oben getrennt dargestellten Formate Workshops und Diskursveranstaltung an einem Tag realisiert werden, sind sie auch gemeinsam als Barcamp realisierbar. Übrigens: Demokratiefeste sind in Deutschland seit dem Hambacher Schlossfest im Jahr 1832 eine Tradition. Mittlerweile gibt es sie europaweit: Demokratiefestivals der Democracy Festivals Association und Festival für Bürgerbeteiligung und deliberative Demokratie, das vom Kompetenzzentrum für partizipative und deliberative Demokratie (CC-DEMOS) der Europäischen Kommission organisiert wird.

2023-12-04_Bettina-Kohlrausch_demokratische-Mitsprache-und-GestaltungsmoeglichkeitenSinnvoll wird es sein, mit der Aufforderung zur Mitwirkung an der Stärkung der Demokratie auch entsprechende Perspektiven zu erarbeiten, wie dies erreicht werden soll – siehe dazu nachfolgenden Hinweis zu den Themen Institutionalisierung und Protestkultur.

Dazu würde ich gern Mag. Michael Lederer vom „Büro für Freiwilliges Engagement und Beteiligung“ in Vorarlberg einladen. Er berichtete in seinem Vortrag „Politik und Zufall“ bei der Armutskonferenz im Jahr 2020 über das bewährte Instrument Bürger:innenräte. Gemeinsam mit interessierten Bürgermeister:innen könnten koordinierte Netzwerkaktivitäten begründet werden, die über einzelne Maßnahmen hinausreichen.

Aus Belgien würde ich gerne erfahren, inwieweit der Bürgerdialog in Ostbelgien auch auf andere Regionen übertragbar ist.

2024-01-29_gemeinwohlcontrolling_partizipativer-bundesratVon den Autor:innen des (mitunter empfohlenen) WBGU-Hauptgutachtens aus dem Jahr 2011 möchte ich gerne erfahren, was aus ihren Überlegungen zur Einrichtung einer Zukunftskammer geworden ist und welche Maßnahmen es (über Klima- & landesweite BürgerInnen-Räte) noch braucht, um dieses Vorhaben in die Realität umzusetzen. Dasselbe gilt für den „Demokratieforscher Prof. Dr. Roland Roth, der den Förderfonds Demokratie wissenschaftlich begleitet und formativ evaluiert hat.

2023-12-12_Journal-fuer-politische-Bildung_Rupert-Graf-Strachwitz_Demokratie-muss-weiterentwickelt-werden

Als weiteren Podiumsgast empfehle ich Tamara Ehs. Eventuell auch Goliathwatch – siehe Alternative-Artikel „Demokratie schützen und ausbauen“ oder Klimarat und Letzte Generation und last but not least Der Wandel. Ebenso aus Telfs wegen der Demokratiewoche „Telfs lebt Demokratie!

2023-12-01_Mehr-Demokratie-eV_NewsletterMöglicher weiterer Podiumsgast: eine/n Sprecher/in vom „Bündnis für Demokratie und Toleranz Treptow-Köpenick„. Interessante Beiträge sind auch von der Ehrenamtlichen/Freiwilligen-Organisation „Brand New Bundestag“ zu erwarten: „Wir wollen, dass die Parlamente alle Menschen unserer Gesellschaft repräsentieren.“ Dasselbe gilt für Mehr Demokratie e.V. aus Berlin, einer NGO mit rund 40 Mitarbeitenden im Jahr 2023 und „mit mehr als 10.000 Mitgliedern und rund 200.000 Interessentinnen und Interessenten„.

In einer nächsten Veranstaltung könnten wir die gesammelten Ideen mit möglichen Bündnispartner*innen besprechen:

Das führt mich zur Veranstaltung „Armut frisst Demokratie“ der VHS Linz Anfang März 2023 (s. a. „Studie: Armut ist Risiko für Demokratie …„). Eine Perspektive mit Bezug darauf lieferte Caritas-Präsident Michael Landau im Jänner 2020: „Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, also jeweils überprüft wird, dass sie Kinder- und Altersarmut sinken und nicht steigen lassen.“  Um hier anzuschließen möchte ich die Expertise der Caritas am Podium nicht missen.

Das sagt die Abgeordnete Mag. Meri Disoski dazu in ihrem Portraitvideo auf die Frage nach ihrem Herzensanliegen: „dass das Parlament die Bevölkerung Österreichs widerspiegelt“.

Weitere Anregungen siehe Futurium-Angebote in Berlin.

2024-01-16_Uni-Krems_Einladung_Wir-brauchen-eine-mutige-kulturelle-Revolution_Rueckseite_oben


Beteiligungsprozesse müssen in verschiedenen Handlungsfeldern erprobt, kultiviert
und auch schlicht und einfach eingeübt und erlernt werden. (Alois Kölbl, 2019)

Nachdem Roland Roth in „Demokratie wirksam fördern“ darauf hingewiesen hat, dass „auch Bürgerinitiativen und Protestbewegungen […] sich in der Bevölkerung großer Unterstützung“ (S 68) erfreuen, beschreibt er ua diese Handlungsperspektiven:

2023-12-14_Brot-fuer-die-Welt_Handabdruck_Kampagnen-des-Protests-sind-notwendige-Strategien_Auszug„Proteste, Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen sind auf aktive zivilgesellschaftliche Unterstützung angewiesen. Sie können sich nur entwickeln, wenn es aktivierende Gruppen und alltäglich kooperierende Akteure gibt. […] Entscheidend sind die aktivierende Kooperation und Vernetzung über einzelne Bewegungsmilieus und Themenanwälte hinaus. Die Unterstützung solcher Vernetzungsarbeit, wie sie z.B. seit längerer Zeit von der Bewegungsstiftung gefördert wird, setzt an diesem kritischen Punkt an.

Screenshot_20231218-122021[…] Dabei kommt zivilgesellschaftlichen Projekten und Akteuren oft eine vermittelnde Rolle zu. […] Für die Fähigkeit zur demokratischen Selbstkorrektur dürften Initiativen und Proteste schon aufgrund ihrer medialen Sichtbarkeit eine zentrale Rolle spielen.“ (S 69)

Carmen Losmann macht uns auf noch einen Aspekt aufmerksam, der nicht unerwähnt bleiben darf: selektive Responsivität. Forschungen zeigen, dass die unteren und mittleren Einkommensgruppen hinsichtlich ihrer Präferenzen bei politischen Entscheidungen auf die Zustimmung jener mit hohem Einkommen hoffen müssen. Im Extremfall Südafrika weist uns eine Stimme aus diesem Land der extremen sozialen Gegensätze 10 Jahre nach dem Tod von Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela auf folgendes hin: „Man muss verstehen, dass in Südafrika das meiste Kapital immer noch in den Händen der Weißen ist. Es ist nicht so, als wären wir Schwarzen in Südafrika wirklich frei.“ Seien wir wachsam, denn auch „Demokratiekultur matters“.

2023-11-27_Bertelsmann-Stiftung_Buergerbeteiligung-mit-Losverfahren

„… im Großen und Ganzen sind die Gründe für Ungleichheit und Armut struktureller Natur und liegen nicht in der Verantwortung der Betroffenen. Sie lassen sich daher auch nur politisch grundsätzlich lösen.“

Nachsatz als Frage: Wie werden wir wirksam?

Wenn von Protestkultur die Rede ist (zB: Proteste als Demokratiegeneratoren [Armin Nassehi] oder Protestkunst [Tim Wihl]), dann erinnere ich gerne daran: Aus dem Lichtermeer vom 23. Jänner 1993 in Wien ging zwar die NGO SOS Mitmensch hervor, doch Helmut Schüller als einer ihrer Initiatoren stellt 30 Jahre danach ernüchtert fest: „Denn so, wie es aussieht, ist es noch einigermaßen weit zu einer Politik für Geflüchtete, die ihr Maß an den Menschenrechten nimmt.“ (MO 69: Geflüchtete als Spielball) Immerhin hat aber gerade SOS Mitmensch im Laufe der Jahrzehnte eine Art Vorbild für eine dauerhaft inszenierte, angewandte Protestkultur entwickelt: Pass Egal Wahl.

In der Zwischenzeit keimen weitere davon:

 

2024-01-08_Bell-Tower_Banda-Communale

Personen, die aktive Mitglieder in einer religiösen Organisation sind und sich sozial engagieren, zeigen signifikant höhere Zustimmungswerte zu demokratie​politisch entscheidenden Faktoren.
(Regina Polak, 2023)

Und so manche Themen sind es wert, jahrzehntelang dafür auf die Straße zu gehen, wie zB anlässlich der Protestmärsche gegen Atomkraft. Weitaus länger noch gibt es Demonstrationen in Form von Prozessionen in der Katholischen Kirche. Dompfarrer Toni Faber: „Allerdings ist es keine Demonstration gegen etwas, sondern für etwas [Anm.: zB Klimademo, Menschenrechte]. Wir wollen einladend Christi Gegenwart zeigen.“ (Kurier: „Fronleichnams-Prozession ist die Urform der Demo„, 20.6.2019) Sich in die Politik einzumischen ist übrigens ganz im Sinne von Papst Franziskus, „denn sie sucht das Gemeinwohl“. Anlässlich der Verleihung des päpstlichen Gregorius-Ritterordens hat Dr. Heinrich Schnuderl in seiner Laudatio auch Bezug genommen. Uns bleibt „nur“ noch, vom „Reden ins Tun“ zu kommen.

Vergessen wir zudem nicht die Wirkung von individuell Protestierenden zu erwähnen: so hat zB Thomas Piketty die Mitgliedschaft in der Ehrenlegion als höchste Auszeichnung Frankreichs mit den Worten abgelehnt: „Ich denke nicht, dass es der Regierung zukommt zu entscheiden, wer zu ehren ist.“


Beitragsbild: FAZ-Artikel „Mit dem Losverfahren die Demokratie retten?

2023-10-26_Wir-wollen-mehr-Demokratie-wagen

2022-12-25_offenegesellschaft_was-tun-fuer-eine-offene-gesellschaft

Schließlich ist aber auch die Demokratie in der Schweiz noch nicht zu Ende entwickelt, denn:

„Die Schweiz hat ein Repräsentationsproblem.“

2024-05-03_campus-demokratie_schweiz_hintergrund-tag-der-demokratie

2 Gedanken zu „Mitentscheiden – ein Fest für alle

  1. „Wir dürfen nicht mehr andere Menschen tadeln, wir dürfen auch nicht die dunklen ökonomischen Dämonen hinter der Szene anklagen. Denn in einer Demokratie besitzen wir den Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen. Wir können sie zähmen. Es ist wichtig, daß wir diese Einsicht gewinnen und die Schlüssel gebrauchen; wir müssen Institutionen konstruieren, die es uns erlauben, die ökonomische Gewalt auf demokratische Weise zu kontrollieren und die uns Schutz vor der ökonomischen Ausbeutung gewähren.“

    Diese mahnenden Worte von Sir Karl R. Popper haben seit dem Zweiten Weltkrieg nichts an Dringlichkeit oder Aktualität verloren. Zwischenzeitlich schien es fast so, als hätten wir die dunklen Dämonen fest in demokratisch legitimierten Händen. Doch spätestens mit Beginn des dritten Jahrtausends wurden die Versäumnisse in Form wachsender Repräsentationslücken wieder deutlich spürbar (Ö: siehe Interview mit Heinz Fischer; USA: zB Michael J. Sandel und die Erbaristokratie von Eliten). Die Gründung neuer Parteien würde daran allerdings auch nichts ändern:

    > Emanuel Towfigh gemäß leben wir „in Frieden und Wohlstand, wir genießen eine stabile Ordnung. Dies ist auch ein Verdienst der Parteien, die nach dem Krieg ein Stabilisator des Systems waren. Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“

    > selektive Responsivität: „Auf eine Übereinstimmung zwischen den eigenen Präferenzen und politischen Entscheidungen können untere Einkommensgruppen nur hoffen, wenn diejenigen mit hohen Einkommen dasselbe wollen.“

    Versuche zur Stärkung der Demokratie:

    > Demokratische Beteiligung: Ungleiche Ressourcenverteilung insbesondere in Fragen von Bildung und Einkommen > Wahlbeteiligung > ungleiche Vertretung (vgl. Forderung der Arbeiterkammer nach innovativen, sozial repräsentativen und inklusiven Formen von Partizipation)

    > Pass Egal Wahl: Hier dürfen alle wählen, die in Österreich leben!

    Mehr direkte Demokratie ohne entsprechende Debattenkultur führt auch nicht immer zu den besseren Entscheidungen. Die „Zufallsauswahl einer begrenzten Zahl von Bürger:innen für die Bildung von Panels“ ist mitunter geeigneter.

    Jahrtausendelang bewährtes Mittel gegen Repräsentationslücken: das Los.

    „Die entscheidenden Denker der französischen und der amerikanischen Verfassung, Sieyes und Madison, sahen im repräsentativen Regierungssystem keine Form der Demokratie.“ (aus der Beschreibung zum Buch „Kritik der repräsentativen Demokratie“ von Bernard Manin)

    Hubertus Buchstein: „Nach Inkrafttreten der neuen Verfassung von 1795 hatte Frankreich zwei neue legislative Kammern, von denen ein Drittel aller Abgeordneten jährlich neu gewählt werden musste.“ (Demokratie und Lotterie, S 210)

    Weil sich das Los in der Geschichte der Demokratie so gut bewährte, hatte auch der WBGU dieses im Jahr 2011 für die (zu etablierende) „Zukunftskammer“ empfohlen.

    Der WBGU stellte in seinem Hauptgutachten bereits im Jahr 2011 folgendes fest:

    „Wissen ist nichts ohne Wissende, und Wissen verbreitet sich nur durch Handelnde: Ein Transformationsprozess ist zum Scheitern verurteilt, wenn ‚Experten‘ auf die Selbstevidenz der Vernünftigkeit ihrer am grünen Tisch erarbeiteten Vorschläge setzen und ‚Laien‘ durch Informationskampagnen und Anreizsysteme veranlassen (wollen), entsprechende Maßnahmen im Nachhinein zu akzeptieren. Erfolgreicher als Versuche politisch-administrativer Institutionen im Bereich von Klimaschutz und -anpassung am Ende eines Prozesses ‚auch noch‘ Akzeptanz zu beschaffen, dürften nach den Erkenntnissen der Partizipations- und Innovationsforschung solche Politiken und sozialen Mobilisierungen sein, die auf die frühzeitige Beratschlagung (Deliberation) mit und die aktive Teilhabe von Betroffenen setzen und für politisch-administrative Maßnahmen auf diese Weise Legitimation beschaffen (Walk, 2007; Schaal und Ritzi, 2009; Kristof, 2010).“ (S 255 f)

    Bedenken wir dabei allerdings auch: ohne Gelbwesten-Proteste wäre Jahre später vermutlich kein „Ständiger Bürgerrat für Paris“ gegründet worden.

    Über das Experiment einer „funktionierende[n] Koexistenz parlamentarischer und konsultativer Gremien“ in der bayrischen Gemeinde Weyarn berichten Patrizia Nanz und Claus Leggewie: „Bislang sei es gelungen, so heißt es offiziell, ‚Parteipolitik und persönliche Interessen‘ von der ‚zweiten Kammer‘ fernzuhalten und die Kluft zwischen Entscheidungsträgern und Bürgerschaft zu überbrücken. Die Institutionalisierung dieses Gremiums hat also die Defizite professioneller, repräsentativer Gremien nicht reproduziert.“ (Die Konsultative, 2016, S 92)

    Last but not least David Van Reybrouck: „Der Gebrauch des Losverfahrens fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen.“ Er plädiert daher für die Einführung eines birepräsentativen Modells im Rahmen eines Parlaments mit zwei Kammern.

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    1. Eine lebendige Mitbestimmungskultur stärkt die Demokratie ganz generell, nicht nur in der Arbeitswelt:

      „Mit positiven Erfahrungen demokratischer Handlungsfähigkeit in der Arbeitswelt sinkt die Zustimmung zu extrem rechten Aussagen deutlich, während Beteiligungs- und Partizipationserleben zugleich das Vertrauen in die Demokratie und die eigene politische Handlungsfähigkeit stärken.“

      Jupp Legrand im Vorwort von: „Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland„, OBS-Arbeitspapier 64, 2023-12-12

      Siehe auch Studie von Christian Pfeifer: https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-mitbestimmung-macht-demokratisch-55175.htm

      Es gilt, den vermuteten „Paradigmenwechsel hin zu mehr Partizipation“ zu unterstützen.

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